Im Strafverfahren bekommen die wenigsten Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Der weit verbreitete Irrglaube, dass Beschuldigte mit keinem oder geringem Einkommen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger haben, ist leider falsch. Als Pflichtverteidigerin kann ich nur tätig werden, wenn ein in § 140 StPO gesetzlich geregelter Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. Typische Beispiele für die Erforderlichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung sind die Inhaftierung eines Mandanten oder eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr. Nur wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, kann ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Eine Beiordnung ohne Anhörung ist jedoch nicht rechtsmäßig.
Beschuldigte müssen gefragt werden, welcher Pflichtverteidiger ihnen bestellt werden soll
Das Gericht kann dem Beschuldigten nicht wahllos einen Pflichtverteidiger beiordnen. Es muss ihn erst anschreiben und fragen, ob er selbst einen Rechtsanwalt benennen möchte. Der Beschuldigte hat also ein Anhörungs- und Bestimmungsrecht. Erst wenn in der gesetzten Frist (in Berlin in der Regel 2 Wochen) kein Anwalt von dem Beschuldigten benannt wird, darf das Gericht einen Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger aussuchen. Bei einer Beiordnung ohne Anhörung ist die Bestellung rechtswidrig und kann mit der Beschwerde angefochten werden.
Anhörung ist zwingend notwendig
Dass die Anhörung zwingend ist, hat auch das Oberlandesgericht Brandenburg in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 – 1 Ws 19/23 bestätigt.
In dem vor dem OLG Brandenburg zu verhandelndem Fall hatte der Angeklagte einen Wahlverteidiger, dem er das Mandant entziehen wollte, weil das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinem Anwalt zerrüttet war. Da ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, musste der Angeklagte aber anwaltlich vertreten werden. Um die laufende Hauptverhandlung nicht unterbrechen zu müssen, ordnete das Landgericht dem Angeklagten seinen bisherigen Wahlverteidiger einfach als Pflichtverteidiger bei. Den Angeklagten fragte es vorher nicht. Dagegen wandte sich der Angeklagte mit der sofortigen Beschwerde, die erfolgreich war. Das OLG Brandenburg stellte fest, dass der Beiordnungsbeschluss unter Verstoß gegen eine zwingende Verfahrensvorschrift zustande gekommen war.
Recht von einem Anwalt des Vertrauens verteidigt zu werden
Es zog das verfassungsrechtlich geschützte Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches Verfahren heran, welches auch das Recht des Beschuldigten umfasst, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. In Fällen der Pflichtverteidigung bleibt dieses Recht unberührt, sodass der Beschuldigte ein Bestimmungsrecht hat.
Keine Gelegenheit zur Stellungnahme
Hier hatte das Landgericht dem Angeklagten nicht die Gelegenheit gegeben, innerhalb einer Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Diese Anhörung ist in § 142 Abs. 5 S. 1 StPO zwingend vorgeschrieben. Wird sie nicht beachtet, kann dies die Revision begründen.
Nach der zu begrüßenden Ansicht des OLG Brandenburg hätte der Angeklagte auch während der laufenden Verhandlung zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung angehört werden müssen. Notfalls hätte die Hauptverhandlung unterbrochen oder ausgesetzt werden sollen. Die Missachtung des Anhörungs- und Bestimmungsrechts führte deshalb zur Aufhebung der Bestellung.
Rechtsanwältin Vanessa Gölzer, Fachanwältin für Strafrecht